Wir haben uns längst an die Nullzinspolitik der europäischen Zentralbank gewöhnen müssen. Auch Strafzinsen (oder freundlicher: Guthaben-aufbewahrungsgebühren) auf mühsam Erspartes, die bis vor einiger Zeit nur wenige trafen, werden mittlerweile nahezu flächendeckend erhoben.
Durch umfangreiche Anleihekäufe am Kapitalmarkt seit der Euro-Schuldenkrise und nochmal deutlich verschärft im Rahmen der Corona-pandemie sorgt die Notenbank für extrem günstige Finanzierungskonditionen für Unternehmen, private Häuslebauer und Finanzminister der Eurozone.
Dieser Zustand ist zum „New Normal“, zum neuen Dauerzustand geworden.
Anleger, die ihr Erspartes anlegen wollen, befinden sich in einem Dilemma: Zinsanlagen rentieren sich schlicht nicht mehr; Der reale Werterhalt des Vermögens ist mit Investitionen in Anleihen guter Bonität nicht mehr möglich. Folgerichtig schichten immer mehr Sparer ihr Geld in Aktien und andere Sachwerte um. Aktienkurse markieren Höchststände und Immobilien sind nicht mehr nur in den boomenden Großstädten für weite Teile der Bevölkerung unbezahlbar geworden. Trotz der historisch einmalig günstigen Zinsen ist es für viele Normalverdiener nahezu unmöglich Wohneigentum zu erwerben und zu Lebzeiten zu entschulden. Hohe Mieten als Nebenwirkung der Preis-entwicklung auf dem Immobilienmarkt belasten viele Haushalte und behindern den Vermögensaufbau der jüngeren Generation.
Diese Entwicklung droht unsere Gesellschaft mehr und mehr zu spalten: Vermögende, die rechtzeitig in Sachwerte wie Aktien, Unternehmens-beteiligungen und Immobilien investierten, erfreuen sich eines zum Teil beträchtlichen Zuwachses ihres (in Euro ausgedrückten) Vermögens. Auf der anderen Seite rückt der erhoffte Aufbau von Wohlstand in immer weitere Ferne. Die Diskussion um Vermögenssteuern und Enteignungen sind aktuell schon nicht mehr ausschließlich im äußersten linken Rand unseres politischen Spektrums gesellschaftsfähig. Es könnte also ungemütlich werden.
Und noch ein Aspekt der langanhaltenden Negativzinspolitik der EZB bereitet mir Sorge: Der schleichende Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfreude unserer Ökonomie. Schwache Geschäftsmodelle werden durch die abstrus günstigen Finanzierungskonditionen übermäßig lang im Markt gehalten und behindern nachhaltig das was man als kreative Zerstörung in der Marktwirtschaft bezeichnet. Das schwächt dauerhaft unsere Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit in der Welt.
Nicht das ich falsch verstanden werde: Die sehr aggressive Notenbankpolitik in der Krise war und ist sicherlich gut begründet. Doch sollte der Krisenmodus auf keinen Fall zum bequemen Dauerzustand werden. Sonst droht uns wirtschaftlicher Stillstand und eine zunehmend gesellschaftliche Spaltung, die das Potential hat, die erfolgreiche soziale Marktwirtschaft zu diskreditieren.
Aktuell steigen die Inflationsraten und schon malen einige Auguren wieder alte Schreckensszenarien an die Wand. Vieles von dem, was die Geldentwertung derzeit nach oben treibt, wird sich als vorübergehend erweisen. Auch sind die pandemiebedingten sogenannten Basiseffekte in Rechnung zu stellen. Aber die Risiken für die längerfristige Preisstabilität sind nicht komplett von der Hand zu weisen. Daher sollte die Zentralbank die derzeitige Situation dringend für eine behutsame Normalisierung Ihrer Geldpolitik nutzen.
Nicht aus Angst vor einer galoppierenden Inflation – aber aus Sorge um unsere Gesellschaft und unsere Wettbewerbsfähigkeit!